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Ein Monat in Tarifa

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2023
Sa
23:28
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Auf Tarifas Flagge stehen 360 Windtage im Jahr geschrieben. Ich kenne nach vielen Jahren der Besuche alle Winde der südlichsten Stadt Europas. Dachte ich. Unser April hier beginnt mit zwei Wochen fast nonstop Levante Sturm von 22 bis 52 Knoten.  Reichlich erschöpft von der 2.800 km weiten Anreise ziehe ich nicht weiter an bekannte Ausweichspots mit weniger Wind.

Ich suche Arbeit. Analysiere dutzende Homepages von Kiteschulen. Berate ausführlich zu im Sturm pfeifenden Fensterschlitzen.  Dann ist der Wind weg. Die Vorhersage verspricht nach ein paar Flauten-Tagen einen weiteren nonstop Levante Sturm für unseren gesamten Aufenthalt bis Ende April. Ich vergesse die Bayerische Kiter Regel Nummer eins: “Wenn der Wind bläst, dann nutze ihn!”.

Ich arbeite viel. Aber der erhoffte Webdesign-Auftrag für den Alleinverdiener will einfach nicht kommen. Ich bin schwer gefrustet. Seit 25 Jahren bin ich Webdesigner aus Leidenschaft. Ich liebe meinen Job. Meine Kunden loben meine Arbeit in höchsten Tönen. Trotzdem bleiben nach so vielen Jahren kontinuierlichen langsamen Wachstums die Neuaufträge erstmals länger aus. Genau dann, wenn man sie als Alleinverdiener am meisten braucht.

Ich studiere erstmals in meinem Leben IT Stellenanzeigen. 25 Jahre Kitesurf-Reisen wären damit vorbei. Wie so vieles andere auch. Ich checke meine Besucherzahlen. Wollte nie ein großes Stück vom Kuchen. Doch ich schreibe für Krümel. Echt? Ja! Anders? Gewiss! Indie? Vollgas! Ich schreibe windige Reise-Geschichten. Mein ganzes Leben.

Das interessiert kaum jemanden. Die Welt liebt gesponsorte Campervan-Blogs, welche Individualität auf den stets gleichen langweiligen ausgetretenen Pfaden unter maximaler Inhaltsbefreiung propagieren. Geschichten sind Geschichte, oder?

Doch genau die liebe ich. Eine gute Reise ist voller Geschichten. Manche enden, andere beginnen. Sie mögen gut sein. Sie mögen schlecht sein. Das einzige was sie nie sein sollten? Vergessen oder schlecht erzählt! Nur ein Underdog wie ich kann die großen heiser kläffenden Blogger-Köter mit ihren Riesenmauln so abgrundtief hassen…

Die ersten Abende in der Beachbar im Block verbringe ich allein. Die Frau bringt das Baby ins Bett. Es dauert immer lange. Ich bin zu müde, um Geschichten zu hören oder erzählen. Gehe meist früh ins Bett.

Dann verbessert sich die Lage. Gute Freunde aus Regensburg und Berlin besuchen uns. Endlich passt der Wind mal kurz perfekt in Canos de Meca. Die Kleine tobt zum Sundowner mit anderen Kinder und Hunden an der Strandpromenade. Gute Geschichten brauchen nicht viele Drinks. Sie brauchen nur ein einziges offenes Ohr – und eine kritische Masse an außergewöhnlichen Menschen.

Der ergrauter Howard Marks berichtet von seinem bewegten Leben als Marihuana-Großfarmer. Ein Campervan-Blogger langweilt uns maßlos mit Stereotypen. Der Automobilzulieferer-Ex-CEO hingegen macht in seinem Campervan auf dem Weg nach Afrika ganz still gute Geschichten. Mein Lieblingschaot berichtet weiterhin, wie gut seine Pläne sind – um sie dann erfolgreich fast jede Nacht über den Haufen zu werfen. Ich mach mir nicht als einziger Sorgen, wie lange seine Geschichte geht…

Die Märchen-Oma erzählt mit ultimativ einschläfender Stimme Geschichten von großen Walen. Ein Pottwal machet ihre Märchen kurz darauf in der Straße von Gibraltar wahr. Prustend taucht er direkt vor unseren Augen ab.

Die stillen Ecken von Tarifa flüstern Fabeln von kleinen Tapas, gigantischen Steaks und weiten Senderos. Spät nachts schreien im Bermudadreieck ertrinkende Gibraltesische Maricones permanent, dass man sie doch nunmehr auch mal endlich zu Wort kommen lassen möge. Wir grinsen und gehen schweigend nach hause.

Unser Monat hier vergeht wie im Flug. Kaum da packen wir auch schon wieder zusammen. Ich habe ein einziges mal an einem Song weitergeschrieben. War gerade mal fünf Stunden mit dem Kite am Wasser. Habe mit der Kleinen im Sand gebuddelt. Den Kinderwagen durch unzählbare Kilometer vorbei an den weltbesten Kitern im Sturm geschoben. Der Plan “12 m vor dem 50.” wurde weit verfehlt.

Dunkle Wolken ziehen über der Heimat auf.
Ich habe Angst, zu früh alt zu werden…

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