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Aus dem Beipackzettel Chemotherapie

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2012
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Krebs ist unkontrolliertes Zellwachstum: Seine Anhänger reagieren nicht mehr auf Stoppzeichen des Körpers. Ein Fehler macht Krebszellen stärker als normale Zellen. Sie betreiben eine aggresive Expansionspolitik. Das einzige was sie auf natürliche Weise stoppt ist oft der durch sie hervorgerufene Tod des Wirts. Krebs verhält sich also fast wie Mensch zu Erde.

Würde ich wegen Krebs nicht um mein Leben kämpfen, müsste ich ihn bewundern. Er zeigt viele Charakteristika, mit denen man es als Mensch heute weit bringt. Bei seiner egoistischen Expansion setzt er rücksichtslos die Ellbogen ein. Er huldigt dem ewige-Jugend-Kult. Und er ist aufgrund seiner Komplexizität ähnlich schwer angreifbar wie international operierende Banken.

Die Unterschiede zwischen normalen und Krebzellen sind in allen Bereichen minimal. Man kann sie unter dem Mikroskop unterscheiden, aber im Körper agieren sie auf sehr ähnliche Weise. Daher ist es auch so schwer, alleine Krebszellen mit einer Therapie zu treffen. Die Chemotherapie zielt darauf ab, sich schnell teilende Zellen zu vernichten. Ich bin überzeugt von der Wirksamkeit. Doch der Beipackzettel Chemotherapie ist eine echte Geisterbahn:

Es werden alle sich schnell teilenden Zellen vernichtet. Die Haare fallen aus. Rennradfahrer könnten jetzt „Juhu!“ schreien. Umsonst. Die Körperbehaarung bleibt normalerweise. Die Mundschleimhaut und Nasenschleimhaut werden abgebaut. Es gibt häufig Entzündungen. Die Lungenfunktion wird beeinträchtigt – manchmal temporär, oft lebenslang. Auch Herz, Nieren und Leber werden belastet und daher vor Beginn der Chemotherapie ausgiebig getestet. Bleibende Schäden sind unwahrscheinlich aber möglich.

Das Geschmacksempfinden ändert sich und führt über Appetitlosigkeit bis hin zum Erbrechen durch Geruch. Ich werde oft sehr müde und erschöpft sein. Auch die Magenschleimhaut wird angegriffen und kann zu starkem Sodbrennen führen. Übelkeit tritt nur während der Verabreichung der Chemotherapie auf und kann medizinisch mittlerweile gut kontrolliert werden. Es kann zu Nervenstörungen kommen, vornehmlich Kribbeln in Armen und Beinen. Mit etwas Glück vergeht das nach der Chemotherapie wieder. In wenigen Fällen bleibt das Kribbeln lebenslang.

Auch die Bildung neuer Blutzellen im Knochenmark wird temporär stark geschädigt. Im Extremfall können Bluttransfusionen nötig werden. Am schlimmsten ist die Reduktion der Bildung von Granulozyten in ihrer Funktion als Armee und Müllabfuhr des Körpers. Die Infektanfälligkeit für jegliche Krankheit steigt in den Wochen nach Chemotherapie deutlich an. Daher raten die Infobroschüren, sich von großen Menschenansammlungen und ÖPNV fernzuhalten.

Die Spermienproduktion wird höchstwahrscheinlich dauerhaft geschädigt. Zeugung nach Chemotherapie ist sehr unwahrscheinlich – und würde in den ersten zwei Jahren nach Abschluss ziemlich sicher ein schwer behindertes Kind hervorbringen. Während und nach der Chemotherapie können Konzentrationsstörungen auftreten. Auch diese Gedächtnisstörungen können aber müssen nicht lebenslang bleiben.

Die Wirkstoffe der Chemotherapie vernichten Körpergewebe wenn sie z.B. durch eine verletzte Vene aus dem Blutkreislauf gelangen. Heute wird daher ein zentraler Zugang gelegt. Der Port schaut aus wie ein kleines Stethoskop mit einem Schlauch für die Vene richtung Herz. Er wird unter die Haut seitlich der Brust verpflanzt. Der OP erfolgt ambulant. Beim Freilegen der Vene neben dem Schlüsselbein jodelt die Knochenhaut lautstark. Jetzt bin ich eine immerwährende Weinflasche, kann jederzeit wieder aufgefüllt werden. Die Stimmung dieses Cyborgs sinkt spürbar ab.

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