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Ohrensausen

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#481
2703
2012
Di
9:49
Tag
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Nach fünf Tagen Chemo werde ich entlassen. Der Frühling ist da. Die Vögel zwitschern. Ich fahr heim und räume meine Sachen auf. Kaufe Futter. Wasche, koche und esse. Lebe. Freunde kommen und fragen. Ich freue mich, aber die Fragen sind alle gleich und in ihrer Wiederholung schwer. Die beste Frage stellt mir ein kleiner großer Mann: “Was machst du, wenn du überlebst?”.

Krebs verändert Menschen für immer. Sie werden offener, direkter, leben gesünder. Vermeiden Stress, gehen auf Reisen, feiern mit Freunden, meditieren, singen lautstark Lieder und finden ihren Sinn des Lebens. Mein Problem: bis auf das Rauchen aufhören hatte ich alles schon erledigt.

Ich wüsste nicht, was ich ändern wollte. Ich bin glücklich, habe gute Freunde, eine tolle Freundin und alles was ich brauche. Direkter könnte ich nur noch werden, wenn ich potentiellen Aggressoren schon vor dem geplanten Angriff mit der Schrotwumme ins Gesicht schiessen würde. Aber solche Sauereien wären auch bäh. Ich habe die sieben Meere besegelt. Habe einen stressfreien Traumberuf. Was kann mir der Krebs bringen? Ich fühle mich schuldig, sehe nichts zu ändern. Aber wenn ich nichts ändern muss, dann bleibt nur: nichts zu tun. Nichts tun können ist das schwierigste überhaupt, wenn man um sein Leben kämpft. Erste Prognosen über die Wirkung der Chemo bekomme ich in zwei Monaten.

Lesen. Filme. Eiscreme mit Erdbeeren. Picknick in der Sonne. Blumen beim blühen zuschauen. Leben, gutes Leben. So einfach. So besorgniserregend normal. Tags denke ich an die Statistik und glaube. Nachts manchmal an den Tod, schlafe aber trotzdem. Alles ist so normal. Ein sonniger Morgen. Beim Zappen lande ich in der Fernsehkirche. Ich sollte spirituell werden, aber alles was ich spüre ist Brechreiz.

Bisher bleibe ich von allen Horrorgeschichten, die die Chemo mit sich bringen kann verschont. Keine Übelkeit abseits Fernsehkirche, gesunder Appetit, meine Haare sind noch am Kopf. Die OP-Wunde heilt perfekt. Nach zuviel Pizza schlimmes Sodbrennen geht in Ordnung, und zehn mal am Tag eine Minute durch Cisplatin hervorgerufenes starkes Ohrensausen sind auszuhalten. Aber: ich fühle mich leer und machtlos. Alles normal. Mit Bitte um gute Fragen…

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7 Kommentare

  • Ralph Meinhold schreibt am Dienstag, 27.3.2012 um 11:36 Uhr:

    Eins verändert sich doch, der Krebs wird besiegt, warum muss sich denn noch etwas verändern? ;-)

  • Tobi schreibt am Dienstag, 27.3.2012 um 14:18 Uhr:

    Glück kannst du doch nur auf Dauer genießen, wenn du dazwischen mal wieder runtergezgen wirst. Ok, das ist vielleicht ziemlich weit unten, aber dafür kanns umso weiter wieder nach oben gehen… Ausserdem – wer sagt denn, dass sich nach deiner Genesung was verändern soll?

  • ff-webdesigner schreibt am Mittwoch, 28.3.2012 um 4:14 Uhr:

    Ich will nicht einfach nur “über”leben. Da muss mehr sein… Bin auf der Suche…

  • Tobi schreibt am Mittwoch, 28.3.2012 um 11:29 Uhr:

    Also auf der Suche nach mehr “Leben”… hmm… Keep on searching und sag Bescheid, wenn dir was eingefallen ist. Liebe Grüße, Frank!

  • Katja schreibt am Donnerstag, 29.3.2012 um 17:33 Uhr:

    Naja, wenn du dich nun mit dem Sinn des Lebens beschäftigst, hat sich doch schon was Grundlegendes geändert. Oder hast du dich vor dem Krebs auch schon mit dem Sinn des Lebens beschäftigt?
    Bedeutet glücklich auch lebendig?
    Lesen. Filme. Eiscreme mit Erdbeeren. Picknick in der Sonne. Blumen beim Blühen zuschauen. Leben, gutes Leben. So einfach. So besorgniserregend normal.
    Fühlen. Weinen. Lachen mit Tränen in den Augen. Wütend sein bei Mondschein. Verletzlich werden. Leben, lebendiges Leben. Gar nicht so einfach. Umwerfend schön.

  • DK-Dominik schreibt am Freitag, 30.3.2012 um 15:35 Uhr:

    Frank, ich hab Dir das schon tausendmal gesagt, auch als Du hier warst: schreib ein Buch ! Deine satirischen Betrachtungen der Welt sind kaum zu uebertreffen, das hat nichts mit Deiner Krankheit zu tun. Aber auch damit gehst Du extrem gut um, und ich denke Dein Umgang mit dem Thema wuerde auch anderen helfen. Es ist unterhaltsam, optimistisch, und kompetent auf Fakten beruhend,

  • ff-webdesigner schreibt am Montag, 2.4.2012 um 14:50 Uhr:

    @Katja: vor dem Krebs mit dem Sinn des Lebens beschäftigt? Nein, natürlich nicht, niemals. Immer nur saufen und vor Problemen auf Reisen abhauen. So machen das arrogante Narzisten.

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