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Sie leuchten

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#482
0204
2012
Mo
11:11
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Die Haare fallen langsam aus. Ansonsten bleibt alles gut, bisher hab ich fast keine Nebenwirkungen der Chemo zu spüren bekommen. Einmal war mir schlecht, aber nur wegen reichlich Alkohol und Tanzen auf Sublime. Danke, Ayli! Uli nimmt mir viel ab. Ich krieg Chemo, sie hat keinen Appetit und mutiert zum Siebenschläfer. Die Restbelastungen sind alle psychisch.

Permanent gut zu denken, aber zu wissen dass es nichts zu wissen gibt bis Mitte Mai ist hart. Ich bemühe mich um begleitende Psychotherapie. Laut allen Ärzten ein wichtiger Baustein bei der Genesung. Aber meine geliebte Central KV zahlt keinerlei Psychotherapie. Yoga genausowenig. Sie lassen mich allein, wach in der Nacht und oft verzweifelt bei fast komplettem Einkommeneinfall. Danke!

Heute mal was ganz altes, als ich noch mit Schreibmaschinen auf Papier geschrieben hab. Ungefähr 1990 entstanden, und etwas entschärft, weil ich damals zu sehr in Bukowskis Vulgärsprache verwurzelt war. Fiktion. Aber gute, halb echte. Für einen, dem keiner zuhörte.

Sie leuchten

Von seiner Nase tröpfelte der Regen. Dabei hat er leicht geschaukelt. Man hätte fast meinen können, er wollte sich gegen irgendwas wehren oder so. Aber es war natürlich nur der Wind. Der Regen tröpfelte also weiter von seiner Nase auf den Dreck unter ihm. Und aus seinen Haaren.

Besonders schön sah der Regen an seinen Fingerkuppen aus. Er rann seine Arme entlang, und zuletzt hat er sich nochmal am Ende seiner Finger festgekrallt. Wasser. Wie kleine Sterne. Oder das Licht an E.T.’s Fuckfinger. Dann hat es ihn losgelassen, oder er das Wasser. Ich weiss nicht, wie die beiden zueinander standen.

Überhaupt nicht gefallen hat mir der Regen in seinem bleichen Gesicht. Weil seine Augen noch offen waren, sah es aus, als würde er weinen. Die Nase entlang, dann auf die Lippen. Und weg waren die Tränen. Auch im Dreck unter ihm. Nur schwache Menschen weinen.

Irgendwann hat der Wind aufgehört. Nur dieser Typ weinte immernoch. Hab ich nicht verstanden. Ich weiss auch nicht, warum ich ihm seine blöde Jacke ausgezogen hab. Das heisst: mehr runtergerissen hab ich sie ihm. Ich wollte sie in den Dreck schmeissen, wie alles, was von ihm runterfiel. Aber letztendlich hab ich seine blöde braunkarierte Jacke dann doch angezogen. Sie war kalt und total nass. Mir wurde gleich wärmer.

Der Typ hatte wirklich schöne Augen. Braune Augen. Ich dachte immer, Menschen die haben, was sie wollen, wären glücklich. Aber er weinte trotzdem weiter.

Irgendwann hab ich mich auf den Boden unter ihm gelegt. In den Dreck. Seitdem der Wind aufgehört hatte sah er aus, als hätte er sich ergeben. Ich suchte genau nach Bewegung, aber alles, was ich sah, war das, was er anscheinend als letztes gemacht hatte: In die Hose. Ich hasse jede Art von Scheisse. Also bin ich wieder aufgestanden. Irgendwann bin ich gegangen.

Sie haben mich gefragt, wo ich die letzten zwei Tage gewesen sei. Aber Zeit ist halt nun mal relativ. Es war ein Moment. Seine Jacke habe ich immernoch. Braun. Kariert. Ich zieh sie noch manchmal an. Wenn’s mir gut geht. Dann lache ich. Meine grünen Augen werden braun, und manche Mädchen sagen dann, sie seien schön. Sie würden so leuchten. Sagen sie. Sie leuchten. Sie sagen, sie leuchten.

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Ein älterer Mitschüler hatte sich damals erhängt. Er war immer sehr still gewesen, hatte wenig Freunde. Die scheinbar tiefe Betroffenheit des Musiklehrers in Verbindung mit den satten zwei Minuten Trauerzeit im Unterricht kotzten mich damals unendlich an. Erstens unwürdig und zweitens zu spät. Ich nahm mir vor, es früher besser zu machen, wenn ich Menschen wie ihn sehen würde.

 

 

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