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Volle Kanne

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#379
0908
2011
Di
23:47
Tag
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Ich schlafe kaum. Uli geht um sechs Uhr in den Frühdienst. Ab da kann ich nicht mehr schlafen. In der Nacht hat sie mich immer wieder umarmt. Ohne das wäre ich gar nicht eingeschlafen. Wie sollte man sowas allein durchstehen können? Ich stehe auf und schau in einen grauen Morgen. Wenigstens verjagt das Licht die Angst.

Organisation zu einer Zeit, zu der ich seit Jahren nicht gearbeitet habe: Steuerberater bescheid geben. Nächste Vorannmeldung könnte länger dauern. Ein Kunde hat Probleme mit angeblich zu schlechter Bildqualität in seinem Online-Shop. Ja, der hat echt Probleme. Ein paar Faxe ans Finanzamt, lange bevor es öffnet. Dann die volle Kanne: Einlesen in den blauen Ratgeber Hodenkrebs. Wenig später verfluche ich die dank www überall verfügbare Information.

Nach wenigen Seiten wird mir schlecht. Alles dreht sich. Unfruchtbarkeit, Metastasen, Chemotherapie, Strahlentherapie, Lymphknotenentfernung…da kann so viel schief gehen. Hunderte böse Worte machen mir Angst. Freunde charakterisierten mich mal als Pessimisten. Ich mich selbst als Realist. Jetzt versuche ich Optimist zu sein: Ich will nicht unvorbereitet sein, aber ich will auch nichts böses denken. Böses Denken macht böse Zellen. Ich will stärker sein.

Böse Gedanken haben einen Autopiloten. Solange ich nicht aktiv gut denke, denke ich schlecht. Ich gehe zum Krankenhaus, in dem ich morgen operiert werden soll. Auf dem Weg liegt das Bestattungsinstitut „Friede“. Ich reiss mein Gedankenruder so heftig nach links, dass ich beinahe in ein Auto laufe. Die Urologie heisst hier eiskalt Prostatakarzinomzentrum. Uff. Verglichen damit hab ich wohl echt noch Schwein. An den Wänden hängt eine Auszeichnung „Deutschlands beste Ärzte“ von Focus für meinen Operations-Arzt. Ich werde etwas ruhiger und setze mich auf eine Bank im Garten.

Daheim beschäftige ich mich mit Hausarbeit. Bloß nicht stillstehen, sonst dreht sich gleich wieder alles. Ich entsorge etliche Bierkästen und Flaschen von meiner Geburtstagsfeier. Wie schnell sich das ändert… Einigen guten Freunden habe ich bescheid gesagt. Es kommen ein paar Mails, und jede ist Gold, fast egal was drinnen steht. Ich glaube, die meisten Menschen haben weniger vor dem Sterben angst, vielmehr davor zu spüren, dass sie alleine sterben.

Mittags nochmal essen gehen mit Marek. Dann fährt er zurück in die Schweiz. Schnell verabschieden, ich bin rührselig und will nicht, dass er es merkt. Dann wieder alleine auf der Straße. Es regnet. Minutenaufgaben stellen. Ich habe zwei Schlabberhosen, eine in grün. Die ist jetzt dreckig. Mit einer schwarzen will ich morgen nicht ins Krankenhaus kommen. Ich suche eine weisse. Normalerweise nervt es mich, wenn ich nicht finde, was ich suche. Heute nicht. Als ich im 10. Geschäft enndlich eine etwas zu große weisse Schlabberhose finde, bin ich fast schon enttäuscht.

Nächste Aufgabe. Lesestoff. Wir wollen im November vier Wochen auf die Philippinen fliegen. Ich suche einen Reiseführer. Erstes Geschäft hat keinen. Im zweiten lasse ich mir lange Zeit, bevor ich einen kaufe und dann wieder nach hause gehe. Ich bin todmüde. Den ganzen Tag erfolgreich körperlich abgelenkt. Mein Klöten zieht. Ich schau ihn an. Warum machst du sowas? Ein Geschenk von meiner Schwester steht da. Thorwald Detleffsen, Krankheit als Weg. Lieb gemeint, aber wer ein Kapitel über Krebs mit Blättern, Bäumen und Wäldern einleitet, und mit der glorreichen Erleuchtung, Krebs sei das Symptom mißverstandener Liebe, da es keinen Herzkrebs gäbe endet, dem hat irgendeiner wirklich verdammt tief ins Hirn geschissen. Einzig die Feststellung, dass Krebszellen aus der gemeinschaft ausgetretene egozentrische Radikalisten mit extremen Fortpflanzungstrieb sind kann ich noch eine Schmunzeln abgewinnen. Könnte denen mal bitte jemand sagen, dass sie brav sein sollen? Wenn sie nicht gehorchen, verrecken sie mit mir, diese Deppen.

Abends gehen wir nochmal essen. Auch eine gute Freundin hatte letztes Jahr einen Tumor. Hätte ich gewusst, wie schwer das allein sein nach der Diagnose ist, hätte ich sie keinen Moment alleine gelassen. Wir scherzen und lachen. Es geht einfach. Das Radler schmeckt, der Octopus ist langweilig. Draußen regenet es leicht, und vor einem dunklen Himmel zeichnet sich ein leuchtender Regenbogen, ungefähr in der Richtung meines morgigen OPs. Ich glaub an wenig. Aber an Regenbogen. Alles wird gut.

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Ein Kommentar

  • effektlabor schreibt am Sonntag, 14.8.2011 um 15:28 Uhr:

    „… aber wer ein Kapitel über Krebs mit Blättern, Bäumen und Wäldern einleitet, und mit der glorreichen Erleuchtung, Krebs sei das Symptom mißverstandener Liebe, da es keinen Herzkrebs gäbe endet, dem hat irgendeiner wirklich verdammt tief ins Hirn geschissen.“

    Großartige Zeile! ;)

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