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Reiseangst in Brasilien

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#555
2609
2013
Do
1:33
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Die weissen Wolkenkratzer strahlen hell im späten Nachmittagshimmel hoch über Recife. Dazwischen liegt der dunkle Dreck am Boden: stacheldrahtgesicherte halbfavela-Anwesen am Rande der Hoffnung. Ich wandere einige Kilometer zum größten Einkaufszentrum. Drinnen patrouillieren Robocops auf Segways. Ich stelle überrascht fest, dass man nur lacht, wenn man sich sicher fühlt.

Brasilien ist das einzige Land der Welt, in dem man seine Kreditkarte zweimal in den ATM stecken muss, um einmal Geld abzuheben. Dieses regionalspezifische Feature gibt den davor positionierten Darth Vaders mehr Zeit, ihre Pumpguns vollständig in potentielle Kartendiebe nach der dritten Fehleingabe zu entleeren. Willkommener Nebeneffekt dürfte eine deutliche Verbesserung des Brasilianischen Genoms in Richtung Gedächtnisweltweister sein.

Mein Hostel liegt an einer Security-geschützten Straße. Trotzdem krönt die Mauer ums Anwesen ein Elektrozaun. Ich fühl mich irgendwie wie ein Stück Rind auf der Weide. Ich rieche Schlachthof und kaue munter weiter, während ich die Rezeption weinerlich bitte, den Öffnungsmechanismus des Gatters in Gang zu setzen, auf dass ich mir im nahen Supermarkt mein Kraftfutter kaufen möge.

Ich war in vielen armen Ländern. Ich liebe Gegensätze und die Buntheit. Vielleicht war es ein kleines bisschen dämlich, vor der Abreise noch schnell Max Payne II durchzuzocken, ein Spiel, das Profis wegen massig austretendem brasilianischem Blut nur mit saugfähigem Tuch in die Konsole einlegen. Vielleicht war es auch dämlich, den Lonely Planet in die Hand zu nehmen. Und vielleicht war es sogar dämlich, sich irgendeine Horrorgeschichte anzuhören, egal wie sehr du Geschichten liebst.

Fakt ist: ich bin heute zum ersten Mal auf allen meinen Reisen gegen meine Angst angelaufen. Angst ist der beschissenste Reisepartner, den man sich vorstellen kann. Sogar zum Sesselfurzen taugt sie recht wenig. Sie macht blind, sie lähmt und sie drängt dich aus dem Jetzt. Reisen geht aber weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit. Reisen kann nur jetzt sein.

Olinda ist die historische Schwester der Metropole Recife. Auf einem Hügel am Meer säumen sich barocke Kirchen fast in der gleichen Frequenz aneinander wie die Fussballstadien in der Ebene darunter. Es ist eigenartig ruhig. Jeder Drücker, der was von dir will ist mit einem einzigen Wort sofort von seinem Ziel abzubringen. Ich kennen das so aus keinem anderen Land. Es ist unheimlich. Nach einem guten Essen laut Gewicht fahren wir mit dem Bus zurück nach Recife. Für die 12km brauchen wir eine dreiviertel Stunde. Abends hämmern hydraulische Rammen Pfähle für die neue Stadtautobahn in den Sumpf hinter dem Hostel. Zum Einschlafen zähle ich die Schläge.

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