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Rostock ist bunt!

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2020
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Das einzige was ich über Rostock wusste war das Sonnenblumenhaus. Auch von dem wusste ich ein gutes viertel Jahrhundert später wenig. Oder vielleicht noch nie? Also wollte ich Rostock sehen. Die Begrüßung mitten im bunter als Berlin graffitisierten KTV Viertel lautet “Willkommen in der Kommune!”. Etwas überrascht grinse ich unsichtbar in mich hinein.

Rostock ist schwer zu begreifen. Voller Widersprüche, bunt und immernoch in weiten Feldern grausam. Autos fahren links. Dadurch drückt man seine Gesinnung aus. Durch Parken mitten auf Kreuzungen seine soziale Ader. Jede Ampel auf Hauptverkehrsachsen ist rot wenn du korrekt fährst. Die Blitzer stehen in engen Abständen und die Parkwächter lieben fremde Kennzeichen. Morgens staut sich alles ins Zentrum – abends auswärts. Kiter haben zum Glück einen gegenläufigen Rhythmus.

Der Wind spielt diesen Spätsommer ziemlich verrückt. Trotz viel fahren gibts noch nicht mal jeden dritten Tag 15 Knoten Minimum für gute Kite-Sessions. Doch das ist nicht so wichtig. Viele alte und neue Freunde sind im Norden. An manchen Wochenenden reiht sich eine Kette Südkiter von Hamburg bis Rügen in 50-km Abständen. Ich treffe recht wenige. Alle sind Gold.

Die Kommune rockt mit bunten Menschen und wilden Drag-Queen-Parties. Italien, Syrien, Deutschland und das beste “Georgia” Karaoke eines Teilzeitlovers lassen Nächte glühen. Mein 20 Länder alter Lieblingslatschen entmaterialisiert sich dauerhaft auf dem Weg von Wohnzimmer zu Bett, kausal sicher vollkommen unzusammenhängend mit dem zu alt einschätzen eines jungen Männer-Mädels.

Tagsdarauf entsorge ich das Leergut. Mit gut beladenem Einkaufswagen stoße ich an der Oberkante der Eingangstür im Kaufland an. Das Grinsen der entgegenkommenden ist sogar durch die Corona-Masken sichtbar. Eine ältere Frau rät mir das magische vier-Buchstaben-Wort öfter in der WG auszupacken. Ich: “Alki”? Doch sie meinte das “nein”.

In strahlender Sonne und Flaute umradle ich das Rostocker Hafenbecken. Aus vermuteten 25 km werden wegen Abstechern und fehlenden Radwegen direkt am Wasser bis zum Abend satte 55. Die letzten Kilometer durch Lichtenhagen werden flankiert von buntesten Farben an alter DDR-Platte gegen meine allumfassende Müdigkeit. Sie schreien ein “Nein” in eine graubunte Zukunft. Das mengenmäßig größte nachkriegliche Naziverbrechen in Deutschland ist nicht vergessen – doch die verstreuten Mahnmale ähnlich schwer zu finden wie die Gründe des multiplen Organversagens eines ganzen Landes.

Das Sonnenblumenhaus war nicht die einzige Asylbewerber-Unterkunft die 1992 brannte. In den Monaten davor und danach brannten in ganz Mecklenburg-Vorpommern zahlreiche weitere. Es starben Menschen. Es gab mehr Nazis als heute in Sachsen. Aber das sagte uns die Tagesschau nicht – oder ich habe es vergessen. Es braute sich etwas zusammen. Lange und mächtig. Alle sahen blinden Auges zu. Rostock reagierte nicht angemessen, da Asylpolitik Landepolitik ist – und wenn in Schwerin nicht zu sehen oder finden – dann eben beim Bund.

Das traurigste Detail in Lichtenhagen war der unerfahrene Polizei-Einsatzleiter, der erst durchs Radio erfuhr dass er eine leere Asylbewerber-Unterkunft beschützte. Zwei Tage lang war die unterausstaffierte Polizei bei bis zu 3000 Rechten oft 10:1 in der Unterzahl. Erst als sie sich zurückzog flogen die Molotovs. Drei Tage später hatte die Polizei magischerweise alles voll im Griff. 3000 Linke protestierten friedlich gegen Verbrechen. Nach Tagen des Universalversagens konterte die Polizei auf einmal mengenmäßig eins zu eins. Ich verstehe, dass die Polizei per Definition generell eher rechts sein muss. Sie schützt den Status Quo. Doch gerade dieses Jahr frage ich mich mehr denn je: Wie rechts ist unsere Polizei?

Bis zur Abreise konnten mir viele Befragte nicht beantworten in wieweit das Sonnenblumenhaus die Wurzeln für die heutige Buntheit Rostocks gründete. Ich will sie einfach so sehen. Auf Grauen folgt Frieden, Toleranz, Offenheit und Freiheit. Sicher nicht nur Sahnekuchen. Aber die Jazzer im urigen Cafe nebenan und die Punks im Molotov (sic!) eine Straße weiter machen mir viel Hoffnung dass ich richtig liege…

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