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Leon: Viva la … que?

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2015
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In zehn Tagen kann man sicher kein Land begreifen. Doch wenigstens den Ansatz seiner Seele zu erkennen hatte ich mir erhofft. Aber ich wurde aus Nicaragua nicht schlau. Im Gegenteil. Ich bin verwirrter als vorher.

Nicaragua ist wie seine Restaurants. In jedem gibt es wenigstens 100 Gerichte: Schwein, Rind, Hühnchen oder Fisch, kombiniert mit Reis, Pommes, Bohnen oder Gemüse. Eine unendlich gleiche ermüdende aussagelose Vielfalt. Auf das Essen wartet man stets wenigstens eine Stunde, während fünf Kellner gelangweilt rumstehen. Dann wird das Essen kalt serviert und man wartet wieder eine halbe Stunde auf die Rechnung.

Nicaragua ist der Erfinder der Permarevolution. Seit über 150 Jahren folgt eine auf die andere. Die unbegreifbare Wendehalsigkeit der politischen Richtungen scheint Vorlage für Merkels „ökologische“ Energierevolution gewesen zu sein.

Die einzigen beständigen Faktoren in Nicaragua sind der Richtungswechsel und die Armut. Nach Haiti ist Nicaragua das zweitärmste Land auf dem Amerikanischen Kontinent. 45% der Bevölkerung müssen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen – bei Lebenshaltungskosten von ca. 50% unter Deutschem Niveau.

In den 80er Jahren verkauften die USA recht gewinnbringend Waffen in den Iran. Die CIA betätigte sich dazu sehr erfolgreich als grösster Koksdealer des Abendlandes. Das führte zu verstärktem Konsum in der politischen Führungskaste der USA. Kokser haben zwar leider meist nur Scheissideen, aber dafür das Geld, sie umzusetzen.

1979 zettelten die USA also einen Bürgerkrieg in Nicaragua an. Jede noch so blöde Koksnase weiss schließlich, dass Dominosteine viel gefährlicher sind als Drogen. Die letzten 20 Jahre ging den Contras das Geld aus. Koks wurde einfach zu billig, und die US-Republikaner fanden lustige neue Achsen des Bösen. Nicaragua wackelte weiter. Jede Wahl brachte einen kompletten Richtungswechsel.

Leon ist die alte Hauptstadt der liberal-sozialistischen Bewegung Nicaraguas. Nach fünf Wochen Porenbeton und Wellblech lassen die wenigen alten Gebäude mein Architektenherz Freuden-Backflips schlagen. Die Gehsteige sind hohe löchrige Achterbahnen und in den Hauseingängen schlafen viele Obdachlose. Überall fliegt Müll durch die Gegend.

Leon ist berühmt für sein Nachtleben. Letztere besuche ich zweimal halbherzig mit einem netten Architekten aus Madrid. Aber zur Halbzeit meiner Reise bin ich mir irgendwie sicher, dass ich die besten Parties schon hinter mir habe. Beim Heimkehren höre ich nach Reisen durch zahlreiche unsichere Gegenden anderer Länder zum ersten mal, dass meine Hostelnachbarin gerade ausgeraubt wurde. Leon gilt als sicherste Stadt Nicaraguas.

In 38° heissen Winden legt mich eine Erkältung ein paar Tage arbeitend flach ins Bett. Kaum wieder auf den Beinen besuche ich das „Museo de la Revolución“. Ein alter Guerillero versucht mir die Bedeutung der unbeschrifteten Bilder in einem verfallenen Palast auf Spanisch zu erläutern. Doch leider eröffnete Movistar heute auf dem Platz vor dem Museum den dritten akustischen Weltkrieg. Der Gegner ist nicht auszumachen, aber geschossen wird trotzdem aus allen 20.000 Watt-Rohren. Die alten Guerillas hocken rauchend im Hauseingang und feuern mit einem klapprigen alten Peavey Verstärker zurück. Ich frag einige Male „Que?“ und gebe nach einer halben Stunde Revolutionsnachhilfe auf.

Zwei Stunden Weblektüre im Hostel vervollständigen meine Verwirrung: Es gibt kein schwarz, kein weiss, kein gut, kein böse. Jeder gegen jeden, Truck gegen Schulbus und Abzocker gegen Bettler. Nicaragua hinterlässt mich als sehr verwirrten und müden Reisenden.

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