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Chrigu sterben sehen

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#498
0609
2012
Do
7:07
Tag
1917
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Ich weiss nicht mehr genau wann ich den Film zum ersten Mal sah. Irgendwann im letzten Jahr vermutlich. Ohne Krebs schaut man sich solche Filme nicht an. Beim ersten Mal sah ich nur das Ende. Ein Schock. Ausschalten. Vergessen versuchen. Beim zweiten Mal erwischte ich den Film in der Mitte und sah das ganze Leid.

Jetzt schaue ich Chrigu das dritte Mal beim Sterben zu. 3sat wiederholt den Film anscheinend ständig. Ich will ihn nicht sehen. Aber ich muss. Es ist meine Aufgabe, wegschauen wäre feige. Wenn nicht ich hinschaue, wer dann? Es ist schwer. Wie die letzten Male werde ich nachher wieder wachliegen und mich fragen: wann?

Auf manche Fragen gibt es keine Antworten. Das Leben ist eine davon, der Tod eine andere. Er ist irrational. Du kannst ihn nicht begreifen und niemals besiegen. Schwer zu akzeptieren für semiprofessionelle Logiker auf dem Kreuzzug zur Unsterblichkeit. Wenn du erst mal gesteigerte Gewinnaussichten in der Lotterie der Loser hast, dann willst du halt endlich mal einen echten Sieg davontragen. Also sitz ich und schreibe, denn all das, was ich nicht begreife schafft vielleicht ein anderer.

Der Sieg über den Krebs kann nicht einfach “überleben” sein, auch wenn selbst das alles andere als einfach ist. Es muss da mehr zu lernen geben, und vielleicht können sogar Läuse was lehren. Es ist sehr schwer, das richtige Mass zu finden, die Mitte als der einzig ruhige Punkt in einem Erdbeben. Ich will mich unter keinem Tisch verkriechen, aber genauso wenig bin ich geil darauf, vom Schornstein zermatscht zu werden. Ich will das beste tun. Ich will nicht wegsehen, aber auch mein Lachen und die Hoffnung behalten.

Oft fühle ich mich schuldig. Ich bin einer von denen, über deren Todesursache man bis vor wenigen Jahren in der Tagesschau nicht sprach. Es hiess bestenfalls “nach langer Krankheit”. Aber in der Regel einfach nur: “ist gestorben”. Als wäre Krebs so dämlich wie Heroin. Ist er aber nicht. Trotzdem: oft fühle ich mich schuldig. Meine Schwester, die fragt, welches Resumé ich gezogen hätte. Ich, dem Krebs seinen mir angemessen erscheinenden Teil Ehre zollend, der sie darauf hinweist, dass man Resumés am Ende zieht: Ich fühle mich schuldig, nicht das beste zu machen. Hinsehen und leben.

25% aller Deutschen sterben derzeit an Krebs, und schon bald werden es viel mehr werden. Einstweilen verbietet die EU schon mal Weichmacher in Babyflaschen, denn bei Erwachsenen ruft das Bisphenol-A in PE-Plastikflaschen möglicherweise keinen Krebs hervor. Auch bei Asbest wussten unsere Könige schon lange bevor sie dessen Verbot aussprachen, daß Tausenden von Menschen daran qualvoll sterben würden. Oft sind wir unserer Geschichte einfach zu sehr verpflichtet. Es ist für uns recht schwer hinzusehen. Niemand macht etwas. Wie die Schafe zur Schlachtbank. Auch ich: sitze nur hier. Schreibe. Ist das alles?

Meine Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben liegt bei ca. 20%. Das ist nur minimal schlechter als Russisch Roulette mit einem Revolver, aber immernoch deutlich besser als mit einer Halbautomatik. Es waren mal 0%. Dann 3%, später 10. Chrigu III bringt mich mal wieder zum rechnen. Immer wenn ich mich an Zahlen festklammere, weiss ich, dass ich auf dem Holzweg bin. Nichts gegen Holz, aber oft ist darauf klopfen das einzige was man tun sollte. Chrigu stirbt zum dritten Mal. Ich lebe.

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