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50. Roskilde Festival

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0907
2022
Sa
21:43
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Das nahe dem kleinen dänischen Ort Roskilde stattfindende Festival ist mit seinen wenigstens 130.000 Besuchern plus 25.000 Helfern eines der größten Festivals Europas. Gute Freunde und Dauerbesucher sagten das müsse man unbedingt mal erlebt haben. Also reise ich nach zwei Jahren Winterschlaf direkt vom mit 20.000 Besuchern recht kleinen InMusic Festival im gut 1.400 km entfernt gelegenen Zagreb an.

Ich bin wirklich überfeiert und ordentlich müde. Auch mag ich keine großen Menschenmassen. Und das Lineup des 50. Roskilde Festivals ist das schlechteste seit vielen Jahren. Nach einer Woche feiern sind für mich drei Sachen klar. Erstens findet jeder bei 180 Bands und acht Bühnen sein Gold. Zweitens ist nicht alles Gold, was glänzt. Drittens ist nach Gold graben eine zumeist reichlich dreckige Angelegenheit.

Nach gut 11 Stunden Anreise ab Mitternacht kommen wir kurz nach Mittag in Roskilde an. Obwohl wir zu den ersten Besuchern gehören stapelt sich schon eine wenigstens 500-köpfige Masse zwischen Bierbongs und Hektolitern an Alkohol vor dem Einlass. Wir integrieren uns. Nach drei Bier öffnet der Eingang. Wir packen zu sechst die notwendigsten 120 kg Material aus den zwei Autos zusammen und machen uns in knallendem Sonnenschein auf den Fussmarsch zum gut zwei Kilometer entfernt gelegenen Campingplatz. Näher als unser teurer Parkplatz liegt kein anderer.

Schon nach den ersten paar hundert Metern zieren beidseits der Marschroute erste Leichen den Weg durch ein mit Zäunen abgeriegeltes Wohngebiet. Einige starben Aufgrund technischer Defekte wie gebrochene Räder unter bis zu 500 kg schweren Soundanlagen. Andere überschätzten einfach ihre Alkoholresistenz. Ich hab mich mit 23 kg schlichtweg gut überladen. Camp abstecken, aufbauen und zweite Ladung Material holen. Jetzt breche auch ich zusammen. Erst nach einigem Essen, Wasser trinken und guten zehn Stunden Schlaf bin ich wieder verwendbar.

Das Camp erwacht Punkt zehn Uhr zum Sound hunderter Boomboxen ab 20 kg und wenigstens 200 W. Unsere Campsite ist tatsächlich “Silent and clean” – gemessen an den anderen kostenlosen Campsites. Beim dritten Materialmarsch wandern wir schon an Tag zwei durch eine Kakophonie aus Boomboxen, Bierpong, Büchsenmeeren und zerbrochenen Karren. Kreuzt man Oktoberfest und Ballermann erhält man Roskilde. Wikinger trinken nicht. Sie saufen. Schon vor der in drei Tagen beginnenden Schlacht erinnert das Feld frappierend an Szenen aus “The day after”.

Die nächsten drei Tage laufen gemütlich. Aufstehen. Integrieren. Trinken. Seebaden oder warme Duschen zu knapp fünf Euro. Erste kleine Konzerte finden ab Nachmittag statt. Die Luftmatratze macht schlapp. Auf dem 1,25 km² großen Festivalgelände gibt es mehrere Campingshops. PVC-freie Doppelmatratzen gäbe es schon für den Preis eines guten Doppelzimmers zu kaufen. Wären sie nicht ausverkauft. Ab in die Stadt, neue mit PVC kaufen und dank immer noch grundlos gesperrten 200 m Straße 10 km Umweg zurück zum Parkplatz.

Am dritten Tag muss ich auf einem Ausflug nach Kopenhagen und lange nach meinem letzten Besuch in Dänemark eingestehen, dass nicht nur Roskilde, sondern ganz Dänemark schweineteuer geworden ist. Roskilde ist nochmals etwas teurer. Meine Fehleinschätzung. Am neuen Hafen werden Kajaks vermietet. Auf den Touren möge man gegen Rabatt bitte Müll einsammeln. Keiner kommt mit Müll zurück. Es gibt keinen. Die dänische Architektur spielt angenehm  leise  und interessante Rhythmen.

Am Campingplatz des Roskilde Festivals wird Bier palettenweise fast zu Dänischen Supermarktpreisen verkauft. Die Halbe kostet umgerechnet 1,80 €. Folge ist die gigantischste Vollsuff-Orgie die ich je erlebte. Schon am zweiten Tag gleichen vor allem die “normalen” Campingplätze einer Müllhalde voller zerbrochenen Flaschen und zerquetschten (und damit nicht mehr pfandfähigen) Bierdosen – fein gegliedert durch Sperrmüll-Berge. Für das Roskilde Festival braut Tuborg extra “økologisk grøn” Bier. Die Nachhaltigkeit des Festivals wird von allen religiösen Followern und Bloggern mit leuchtenden Augen gelobt. Purer Schwachsinn meets reines white-washing.

Den Rand jeder Campsite definieren olfaktorisch hochaktive Reviermarkierungen. Hier bin ich. Hier piss ich. Die Emanzipation Dänischer Damen fällt positiv ins Auge. Warum sollten nur Männer – wenngleich ohne entblößten Arsch – das Privileg genießen nur drei Meter neben hochfrequentierten Busstationen freundlich mit Fremden quatschend die Notdurft zu verrichten? Ich muss an meiner Einstellung arbeiten.

Ein kleiner Gewittersturm am dritten Tag garniert die Szenerie fast schon charmant mit zahlreichen zerfetzten Pavillons. Nackte Wikinger tanzen im Regen zu “It’s raining men”. Das erste mal kein “business as usual”. Ich fühle mich  wohl. Die mehrmals täglich vorbeifahrenden Sperrmülltrucks entsorgen zuverlässig alle Zeltfetzen. Unzerdrückte Dosen entsorgt eine Armada von Pfandsklaven kostenfrei, denn Roskilde ist ja “non profit”.

An Tag vier beginnt nach einigen kleineren Aufwärm-Konzerten das eigentliche 50. Roskilde Festival. Wir laufen eine halbe Stunde über die “Leave no trace” Müllhalde zum Konzertgelände. Die Bierpreise steigen jetzt auf wenigstens 7,50 € die Halbe. Wenn man nicht so blöd ist wie ich.

Am ersten Ausschank quatscht mich ein Wikinger mit nicht zahlungstüchtiger Apple Watch an: “Where you from, bro?”. Ich: “Bavaria.” Er: “The Russian part?”. Dann wechselt er ein paar Worte auf Dänisch mit dem Barkeeper und verschwindet. Für meine ersten 0,4l Bier zahle ich direkt darauf gut 13 €. Hä? Barkeeper: “Pfand”. Erst spät in der Nacht schnalle ich beim Ausgeben eines Bieres an einen Freund dass ich einem Betrüger auf den Leim gegangen bin.

In der ersten Festival-Nacht ist an Schlaf kaum zu denken. Die Beschallung von zwei 500 m entfernt gelegenen Ballermann-Campingplätzen zaubert eine Stereo-Kakophonie nie erahnten Ausmaßes. Vollkommen hinüber von 12 Tagen Party klinke ich mich einen Tag komplett aus, schlafe mit mehreren Unterbrechungen satte 14 Stunden und hake die Verluste unter “Roskilde-Anfänger” ab.

Am dritten Tag bin ich voller Zuversicht in permanentem leichten Regen wieder mit dabei. Ich bin wie meine Freunde Ü40. Wenn ich den schwer angesagten Haupt-Act des ersten Tages noch nicht mal kenne schaue ich ihn mir mit 60.000 anderen trotzdem vor der Hauptstage an. Doch als bestbezahlter Musiker der Welt hat Post Malone nicht mal genug Geld für Musiker. Vollkommen alleine zum Playback über die 50 m breite Bühne hampelnd würzt er jeden Satz mit mindestens drei “fucking”. Die Massen johlen. Post Alone? Erbärmlich.

Richtig sauer werde ich am späten Abend. Um das geklaute Bier/Pfand wieder wettzumachen sammle ich nach Thom Yorkes Konzert drei herrenlose Pitcher ein. Gebe sie an der nächsten Bar für ein Bier ab. Das erste schlägt mit ein Tanzender aus der Hand. Er hat Spaß, aber will mir kein neues kaufen. Der Barkeeper vergisst danach zweimal Pfand abzuziehen – und versucht den zweiten Pitcher zu klauen.

Der Rest der Besucher war fast immer freundlich und rücksichtsvoll. Das Essen war durch die Bank weg hervorragend, teuer und garantiert CO2-optimiert. Zahlreiche Shops laden dazu ein, noch mehr Geld auszugeben. Am Ende der Woche beläuft sich die Rechnung für das 50. Roskilde Festival dank günstiger Alkoholimporte aus Rostock auf  schwer  unterdurchschnittliche 900 €.

Roskilde ist “non profit”. Alle Gewinne werden gemeinnützig gespendet. Alle 25.000 Helfer arbeiten einzig für freien Eintritt. Alleine die Tickets brachten 2022 Einnahmen in Höhe von knapp 40 Millionen Euro. Merch, Konzessionen und vor allem der Bierverkauf auf dem Festivalgelände dürften die Summe auf wenigstens 100 Millionen Euro anheben. Gespendet wurden 2019 genau 2 Millionen Euro. Schlechte Bands und Müllentsorgung sind extrem teuer.

Bei 180 Bands findet jeder sein Gold. Mein Gold? Die Idles im zu kleinen überfüllten Zelt. Gemessen an Zagreb eine Woche zuvor war ihr Gig hier trotz viel schlechterer Beschallung pures Dynamit. Zahlreiche Crowdsurfer reiten die tobenden Massen. Die Ordner kommen beim Abpflücken der Glückseeligkeits-Früchte gar nicht hinterher.

Kelly Lee Owens im Apollo mit drei Synthesizern parallel und wirklich live gespielt. Ebenso rockte Grandson trotz gerade mal drei Musikern und Rest nur Playback. Überhaupt Apollo: hammergut beschallte und beleuchtete 5.000 Personen Container-Bühne mit elektronischen Sternschnuppen wie z.B. Daniel Avery. Genau meine Größe. Von den großen drei Bühnen kann ich das gar nicht behaupten.

Sogar mir zu poppige Bands wie Haim und St. Vincent können aus der ersten Reihe betrachtet eine interessante Show liefern. Der Großteil des Lineups 2022 war aber einfach unterirdisch. Wild twerkende Pop-Püppchen hampeln “sexy” über die Bühnen. Ich fühle mich wie in einer schlechten Komödie. Die Strokes liefern als Headliner des letzten Abends eine dermaßen unmotivierte und mit Blödgelaber garnierte Show ab dass ich mich nach nur fünf Songs enttäuscht zum Zelt trolle. Am nächsten Tag schimpft auch jede Zeitung über das unwürdige Ende.

50 Bier auf dem 50. Roskilde Festvial. Was bleibt? Zwei von uns sieben sind jetzt positiv. Ich habe nur eine schwere Grippe. 900 € weniger am Konto und knapp 3.000 km mehr am Auto. Ein paar Kilo mehr auf der Waage. Die Erinnerung an einige goldene Momente mit guten Freunden im Sonnenuntergang. Eine dringendst benötigte Fastenzeit. Und die feste Überzeugung dass “nachhaltig” und “ökologisch” in Punkto Festival komplett für den Arsch sind.

Es ist schwer ständig alles anders zu sehen.

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